Und hier der nächste Beitrag für einen Kurzgeschichtenwettbewerb; diesmal zum Thema Relativierung des Bösen des Aber-Verlages.
SYLVIE
November 2020
„Servus Maierbacherin“, ertönte eine längst vergessene Stimme plötzlich laut und deutlich neben mir. Ich zuckte zusammen, da sie mich aus dem Halbschlaf holte, in den ich nach dem Einnehmen meines Platzes in der U-Bahn stets augenblicklich fiel. So wie auch heute, an einem verregneten Donnerstag. Wie immer fuhr ich gegen 19 Uhr nach Ladenschluss der Buchhandlung, in der ich arbeitete, nach Hause.
Ich drehte mich zur Seite und sah das Gesicht der eben zugestiegenen Person, die sich an einer Haltestange neben meinem Sitz festhielt. Ich konnte nicht verhindern, dass ich kurz zusammenzuckte – und, ganz ohne zu denken, mit der mir antrainierten Höflich- und Fügsamkeit antwortete: „Hallo…“
„Lang ned gseh’n. Wo fährst du denn hin?“ kam es sogleich aufdringlich in leicht österreichisch-bayrischem Jargon zurück. Wie könnte ich diese Aussprache und diese Stimme nur je vergessen – und das hatte ich auch nicht. Sie war einfach tief in meinen Erinnerungen vergraben und versenkt gewesen.
„Heim von der Arbeit“, gab ich zurück. Und fügte dann, auch ganz typisch für mich, möchte ich doch stets, das alle mir wohlgesonnen sind, hinzu: „Und du?“
„Heim vom Flughafen. War auf ´ner Konferenz in Singapur. Geschäftlich, vastähst?“ Breites Grinsen. „Mia ham a gute Zeit g’habt damals, weißt noch?“, erdreistete er sich anschließend sogar noch zu sagen, was nun doch meinen Mund empört wie den eines Fisches aufklappen ließ. Heraus kam aber typischerweise kein Wort.
„Hast noch a bisserl Zeit? Mia könnten bei der nächsten Haltestelle aussteigen, da is a nette Bar. Ich lad dich ein. Bisserl reden über alte Zeiten.“
Mein Gesicht fühlte sich heiß an und ich war mir sicher, dass dieser Kerl meine Gedanken lesen konnte, als ich ihm in die Augen schaute. Natürlich wollte ich ablehnen. Ich wollte ja jetzt bereits einfach nur weg von ihm! Doch dann zögerte ich einen Moment, weil mir ein Gedanke kam. „Du meinst, in der Nähe von der alten Eisenbahnbrücke? Ja, da gibt’s tatsächlich ein paar nette Bars … Einverstanden! Du zahlst.“
Ich gab mich spitzbübisch und erntete ein noch breiteres Lächeln dieses froschartigen, unappetitlich breiten Mundes. Schon sagte der Fahrer die nächste Station an, bremste ab und die Türen öffneten sich. Ich nahm meine Tasche – und gemeinsam stiegen wir aus … während meine Gedanken automatisch in die Rückblende gingen …
September 2000
Sylvie
„Iss“, sagte meine Mutter. Lustlos stocherte ich in meinem Essen herum. Die Katze strich mitleidig zwischen meinen Beinen hindurch.
Spinat, Spiegelei und Kartoffelbrei. Sogar extra Würzspinat, damit ich nicht nur das Ei und den Brei aß und dann behauptete, ich hätte keinen Hunger mehr. „Und setz dich gerade hin, sonst kriegst du einen krummen Rücken!“
Das Telefon klingelte und Mama stand schwungvoll vom Tisch auf und ging durch den offenen Durchgang ins Wohnzimmer, wobei ihr hellblondes Haar dezent mit ihren Bewegungen mitschwang. Elegant.
Ich richtete mich auf, seufzte und zwang mir Bissen für Bissen den Rest des Mittagessens in den Magen.
Im Hintergrund hörte ich meine Mutter am Telefon reden und lachen. Als sie zurückkam, lächelte sie über meinen leeren Teller und meinte: „Na, siehst du. Und ich dachte schon, du wirst vielleicht krank.“
Ich trug meinen Teller zur Spüle und verabschiedete mich mit einem „Ich mach dann mal meine Hausaufgaben“ nach oben in mein Zimmer. Las unterwegs den hingeworfenen Ranzen im Hausflur auf und stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock, schloss dann die Zimmertür hinter mir, bevor ich mich mich aufs Bett fallen ließ und die Hände auf meinen schmerzenden Bauch legte. Mir war schlecht. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich mich noch übergeben müssen, was ich allerdings unbedingt vermeiden wollte.
Mein Blick fiel auf das an der Schranktür auf einem Bügel hängende fluoreszierende Shirt. Ein Orsay-Shirt mit psychedelischem Muster, wie es derzeit auch lange Röcke in der gleichen Art gab.
In den Sommerferien hatte ich mit meiner Freundin Anna und meiner Mutter zusammen einen Einkaufsbummel in der Stadt gemacht, um uns mit etwas Herbstmode für das kommende Schuljahr einzudecken. Und ich hatte mich sehr gefreut, dass ich die Erlaubnis bekam, mir dieses erste etwas stylischere Shirt auszusuchen, das aus einem dünneren Stoff bestand, besagtes Muster in Blau- und Weißtönen und lange Ärmel hatte. Außerdem lag es so an, dass die unter der Brust überkreuzte Naht durchaus leicht meine angehenden weiblichen Formen betonte, was mir sehr gefiel. Vielleicht würde so ja Niko mal auf mich aufmerksam werden?
Nun konnte ich den Gedanken an diese Formen kaum mehr ertragen und wandte den Blick vom Schrank ab. Vor drei Wochen war mein erster Schultag in der siebten Klasse gewesen. Erstaunlich, wie sich manche Schüler in den sechs Wochen Ferien verändert hatten, vor allem die Mädels. Da waren einige jetzt tatsächlich schon geschminkt! Das hatte es in der Sechsten noch nicht gegeben. Auch ich hatte bereits heimlich Lidschatten und Wimperntusche meiner Mutter im Bad ausprobiert, mich aber noch nicht getraut, zu fragen, ob ich mal für die Schule ein klein wenig Wimperntusche auflegen durfte. Diese Probleme kamen mir gerade so weit weg vor. Vor drei Wochen war ich noch der normale, etwas schüchterne angehende Teenager gewesen und hatte nichts anders gewollt, als Niko aus meiner Klasse zu gefallen.
Durch die Klassenteilung waren im neuen Schuljahr einige alte Klassenkameraden in einer anderen Klasse, dafür waren neue aus frühere Parallelklassen in meine hinzugekommen. Zum Glück war Anna noch da und ich saß auch wieder neben ihr. Neugierig hatte ich die neu hinzugekommenen Leute beobachtet. Er war mir schon in der Parallelklasse aufgefallen, wenn wir manchmal zusammen Ausflüge machten oder der Klasse auf dem Flur begegneten. Nein, leider meine ich damit nicht Niko… Man soll ja niemanden nach seinem Äußeren beurteilen, aber in dem Fall passte es: Wulstige, breite Lippen. Ein stets gerötetes Gesicht mit glänzenden feisten Schweinebacken und listig blickenden, hellen Augen. Eine dicke Stupsnase. Außerdem war er nicht besonders groß – zwar auch nicht wirklich klein, aber unteres Mittelmaß vielleicht. Alles in allem keine attraktive Erscheinung. Und er strahlte etwas Perverses aus, was mich achtsam werden ließ, vorsichtig.
Er saß mit zwei Freunden direkt in der Bankreihe vor Anna, einer weiteren Klassenkameradin und mir. Unser Englischlehrer hatte eine andere Schülerin und mich kürzlich im Unterricht nach vorne gebeten, damit jede von uns einer Hälfte der Klasse Arbeitsblätter austeilte.
Nichts Ungewöhnliches. Und etwas, das sich im Gegensatz zum Abfragen gelernten Unterrichtsstoffes zu Stundenbeginn vorne an der Tafel mit meiner Schüchternheit vereinbaren ließ. Ich machte mich also daran, jedem Schüler in meiner zugeteilten Hälfte der Klasse genau ein Blatt Papier vor die Nase zu legen.
Dann kam ich zu den drei Jungs, die in der Bankreihe vor mir saßen. Er thronte in der Mitte. Als ich bei besagter Reihe angelangt war, legte ich zuerst seinem Banknachbarn linkerhand ein Arbeitsblatt auf den Tisch, machte mich anschließend daran, so schnell wie möglich ein weiteres vom Stapel zu ziehen, um es dem Fettgesicht vor die Nase zu werfen, damit ich mich schnellstmöglich wieder entfernen konnte. Mir waren seine Anwesenheit, seine Blicke und sein ganzes Wesen einfach unangenehm.
In dem Moment beugte er sich völlig unvermittelt nach vorne und fasste kurz, aber nachdrücklich, an meine Brust. Völlig verdattert zuckte ich zusammen und krallte zum Glück meine Hand fest um die Arbeitsblätter, sodass diese nicht auch noch wie Herbstlaub durch die Klasse segelten. Außer einem erschrockenen Japsen entfuhr mir nichts.
Nur der Banknachbar rechterhand von ihm meinte: „Boah, Oida! Voll begrapscht!“
Entsetzt war mein einziger Gedanke, dass dies hoffentlich sonst niemand in der Klasse gesehen hatte. Ich weiß nicht, wie ich mich so zusammenreißen konnte, legte aber noch zwei Blätter auf den Tisch, verteilte dann auch den Rest und setzte mich mit der letzten Seite in der Hand an meinen Platz.
Vom Rest der Stunde bekam ich kaum etwas mit und war froh, nicht aufgerufen zu werden, saß wie erstarrt mit stark klopfendem Herzen und unter Schock stehend auf meinem Platz. Anscheinend hatte sonst niemand den Vorfall bemerkt, denn zum Glück sagte kein Mensch etwas. Das hätte für mich dem Ganzen die Krone aufgesetzt. Ich schämte mich entsetzlich und war einige Stunden später einfach nur froh, dass der Schultag vorbei war und ich nach Hause konnte. Dieser grauenhafte Mensch war der Erste, der mich berührt hatte! Ging mir unentwegt durch den Kopf. Das war so typisch bei meinem Glück! Ich konnte das keinem Menschen erzählen, auch, wenn ich wusste, dass ich das eigentlich meinen Eltern sagen sollte. Doch es war viel zu peinlich!
Ich war einsilbig, verhielt mich aber ansonsten normal und sagte niemandem etwas. Doch das Essen schmeckte nicht mehr so gut und mein Bauch tat öfter weh als sonst. Vielleicht dachten meine Eltern einfach, dass dies auf die Pubertät zurückzuführen sei.
Einige Tage später wartete ich gerade in der Pause vor der Schultoilette auf Anna, als er mit seinen Freunden an mir vorbeiging. Er hatte mich seitdem nur immer blöde angegrinst, aber kein Wort gesagt. Ich hatte dann weggesehen und war ihm so weit als möglich aus dem Weg gegangen.
Er stellte sich kurz so nah hinter mich, dass ich erschrak, und flüsterte mir ins Ohr: „Des war erst der Anfang.“ Während er mir schnell ins Hinterteil kniff.
Mittlerweile lag ich mit starken Bauchschmerzen auf dem Bett, nachdem meine Gedanken zu den Vorfällen zurückgeschweift waren. Und ich musste noch vier Jahre lang mit dem Typen in eine Klasse gehen! Was würde da noch alles kommen?!
Nun stürmte ich doch ins Bad und erbrach mein Mittagessen.
Er
Seit Kurzem interessierten mich nicht mehr nur meine Fußball-Sammelkarten. Als Erstes bemerkte ich, wie hübsch die Tochter unserer Nachbarn eigentlich war, aber sie ignorierte mich nur und marschierte hochnäsig an mir vorbei. Ziege! Als mein Vater das bemerkte, lachte er und meinte, kein Wunder, so hässlich wie ich sei, würde mich keine Frau jemals ansehen.
„Streng di an, vielleicht kriegst dann wenigstens an g‘scheiden Job, wo‘st gut verdienst. Dann geht a wos mit de Weiber“, meinte er schlussendlich. „Die Hässlichkeit kannst nur von deine Mutter ham. Da muss i echt blind g’wesn sein bei der Hochzeit!“
Damit zog er von dannen – an die Arbeit, wie immer. Nachdem er meiner Mutter noch Anweisungen fürs Abendessen gegeben hatte – wobei sie schon während des ganzen Dialogs verhuscht und still daneben gestanden hatte. Irgendwie tat sie mir leid – fast. Aber ich musste ja hart werden wie mein Vater, denn ich wollte Erfolg und natürlich wollte ich auch „Weiber“.
„Mei, Bub“, meinte sie nun zu mir, „hast ja g’hört, was der Papa g’sagt hat. Anstrengen musst di in da Schule. Sei brav!“ Dann zauste sie mir die Haare, was ich furchtbar hasste, band ihre hässliche alte Haushaltsschürze hinter dem Rücken zu, und machte sich daran, Vorbereitungen zu treffen, damit sie meinem Vater abends das gewünschte Essen vorsetzen konnte, um so wenigstens etwas Liebe von ihm zu bekommen. Woraufhin er sie noch mehr verachtete und in den nächsten Tagen mal wieder „Überstunden“ im Büro machte. Ich wusste ja, dass diese rassig und dunkel waren, denn ich hatte meinen Vater mit besagten „Überstunden“ schon einmal zufällig in der Stadt gesehen, wobei er mich zum Glück nicht bemerkte.
So also musste ich mit den Frauen umgehen, um eine zu bekommen: Ich musste mir nehmen, was ich wollte.
Dass mit meinem Aussehen, meinem Fettgesicht – das ich hatte, obwohl ich ansonsten zwar nicht gerade schlank, aber eigentlich auch nicht dick war – kein Staat zu machen war, das hatte ich schon gemerkt.
Also überlegte ich, was zu tun war. Ich lernte für die Schule und meine Noten waren in Ordnung. Ich hatte ein paar Freunde und meinen Fußball.
An die selbstbewussten Mädels brauchte ich mich gar nicht erst heranzutrauen, das wusste ich. Sie jagten mir auch irgendwie Angst ein.
Aber eine Schüchterne, Ängstliche, eine, die vielleicht eine Außenseiterin war – das wäre durchaus im Bereich des Möglichen, dachte ich mir.
Die Klassenteilung war da eine gute Chance. Außerdem war ich echt neugierig, welche Mädchen denn ab jetzt alle in meiner Klasse sein würden. Manche hatten sich während der Ferien ganz schön verändert – holla, die Waldfee!
Und dass ich es gewesen war, der unserer Nachbarstochter eine tote Maus vors Fenster gelegt hatte, hatte bisher auch noch niemand herausgefunden. Ihren Schrei hatte man bis zu unser herüber gehört, was mir eine Genugtuung gewesen war.
Ich analysierte also ein paar mögliche Opfer in der Schule. Es waren nicht viele Möglichkeiten, aber ein paar konnte ich austesten. Und wie der Zufall es wollte, ergab sich eine Chance, die ich geschickt erkannte und schnell nutzte – und ich fasste zum ersten Mal ein Mädchen (zwar nur durch die Kleidung, aber immerhin) an – hellblond, blass, schüchtern und dünn war sie.
Und vielleicht mein perfektes Opfer …
Sylvie
So lange hatte ich darauf hingefiebert, alle meine Klassenkameradinnen waren bereits erfahren in dieser Sache. Also tat ich so als, wäre ich es auch, bis ich schließlich tatsächlich meine Periode bekam. Und die Sache war ganz und gar nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte, sondern schockierte mich ob ihrer Heftigkeit und auch der teilweisen starken Schmerzen. Meine Mutter rüstete mich mit Binden und Schmerztabletten aus und ich ging zur Schule, nachdem ich Samstag und Sonntag noch das Glück gehabt hatte, die Sache nicht auch noch gleichzeitig mit dem Schulunterricht ertragen zu müssen.
Am Montag fuhr ich wie immer mit der Bahn zur Schule und hatte das Gefühl, dass sich mir an diesem Tag alles ganz besonders einprägte – die anderen Pendler, das Wetter, die Gerüche.
Seit der furchtbaren der Grabschattacke waren einige Wochen vergangen. Es hatte in den schrecklichen Momenten, in denen wir zum Beispiel Hauswirtschaft hatten und uns dafür in einer dazugehörigen Umkleide umziehen mussten (Schürzen und Kopfschutz anlegen, Ranzen und Jacken dalassen), für ihn noch einige Gelegenheiten gegeben – und die hatte er genutzt: Mich einmal an die Wand gedrängt, als wir dummerweise gerade allein in der Umkleide waren, und mich überall angefasst, bis ich mich angewidert entwenden und fliehen konnte. Ich war einfach zu dumm und zu schüchtern, um ihm eine Ohrfeige zu geben, was mich furchtbar ärgerte. Und einmal hatte er mich dort drin sogar vor seinen beiden Freunden angegrabscht, die es mit Lachen und Anfeuern quittierten. Ich fühlte mich einfach dumpf und verzweifelt und hatte bereits zwei Schularbeiten verhauen, was mir gar nicht ähnlich sah.
Meine Eltern hatten nur den Kopf geschüttelt und gemeint, ich solle fleißiger lernen. Ich hoffte, dass mir das nie wieder passieren würde, doch einem Teil von mir war es irgendwie auch egal. Was brachte das alles noch, wenn so ein Widerling ungestraft meinen Körper anfassen durfte? Wie sollte ich da meine Seele schützen – was sollte die Zukunft noch für einen Sinn machen? Ich hatte mir gewünscht gehabt, dass jemand wie Niko mich erstmals berühren würde. Aber doch nicht so etwas, so jemand!
Weiterhin konnte ich niemandem von der Sache erzählen – ich schämte mich viel zu sehr!
Anna merkte zwar, dass etwas mit mir nicht stimmte, aber ich konnte und wollte nichts sagen. Wir hatten zwar schon noch Kontakt, entfremdeten uns aber, obwohl wir in der Schule nebeneinander saßen.
An besagtem erstem Schultag mit Periode hatten wir am Nachmittag Sportunterricht. Vormittags war ich mit der für mich neuen Situation gut klargekommen. Dem miesen Grabscher war ich aus dem Weg gegangen, was allein schon ausreichte, um den Tag annehmbar zu machen. Dieser war soweit in Ordnung gewesen.
Die Turnhalle war in der Mitte durch eine bewegliche Trennwand abgeteilt und auf der einen Seite hatten wir Mädchen, auf der anderen die Jungs aus unserer Klasse Sportunterricht.
Nach etwa der Hälfte des Unterrichts musste ich zur Toilette. Also stieg ich in den ersten Stock hinauf, wo sich in der Mitte zwischen den nach Geschlechtern getrennten Umkleiden ein einziges gemeinschaftliches WC befand. Wie fast alle Schultoiletten hatte es einen kleinen Vorraum mit einem Waschbecken und unter der Toilettenkabine befand sich ein etwa zehn Zentimeter breiter Spalt; genauso war sie nach oben hin offen.
Als ich in der Kabine saß, hörte ich Schritte und wie die Tür zum Vorraum aufgestoßen wurde.
„Sylvie…“ flüsterte, ja, keuchte fast eine mir bekannte schreckliche Stimme.
Oh mein Gott! Bitte nicht! Dachte ich panisch.
Er hatte wohl gemerkt, dass ich hier hinaufgegangen war – und war mir gefolgt …
Das Höschen und die kurze Sporthose hingen mir zwischen meinen Füßen um die Knöchel, als plötzlich eine Hand, ein Arm durch den Spalt zwischen Boden und Tür in die Kabine schnellte. Ich keuchte erschrocken auf, als die – nun zwei – Hände fest nach meinen beiden Hosen griffen und ich versuchte, mich festzukrallen – doch er war stärker. Ich konnte mich zwar noch auf der Toilette halten, jedoch wurden meine Hosen unter dem Spalt hindurch aus der Kabine gerissen! Ich klammerte mich nur zitternd an der Klobrille fest, und ungefähr zwei Minuten später, in denen ich draußen ein lautes Atmen gehört hatte, wurde meine Sporthose unter der Tür hindurch wieder in die Kabine hineingekickt. Von der Unterhose keine Spur!
Dann öffnete und schloss sich wieder die Tür zum Vorraum, und der Spuk war vorbei. Tränen liefen mir übers Gesicht. Nach einer weiteren halben Ewigkeit zog ich die Hose an und ging in die Umkleidekabine, um mir eine neue Damenbinde zu holen – in der Hoffnung, dass ich mich irgendwie notdürftig auch ohne Unterhose genug schützen konnte. Während ich im Schulranzen kramte, fiel mein Blick zu den Kleidern am Kleiderhaken – und ich stellte fest, dass auch noch mein Hemdchen weg war …
Irgendwann kam Anna nach oben, um nach mir zu sehen. Ich saß mit gesenktem Kopf neben meinem Ranzen auf der Bank und sie merkte sofort, dass es mir nicht gut ging, glaubte aber meine Geschichte von wegen Bauchschmerzen, was ja auch nicht komplett erlogen war. Sie richtete dies unserer Sportlehrerin aus, und ich konnte meine Sachen packen, mich umziehen und nach Hause gehen. Ob der fehlenden Unterhose quetschte ich mich mitsamt der kurzen Sporthose in die hellblauen Jeans, die ich an diesem Tag trug. Gedrückt verließ ich das Schulgelände und fuhr mit der Bahn nach Hause. In mir herrschte nur verzweifelte Anspannung, Angst und Scham. Ich wollte das nicht mehr! Ich musste mich irgendwie wehren, mich irgendjemandem anvertrauen!
Der Peinlichkeit Gipfel war, dass, als ich aus der Bahn ausstieg, ein Junge auf mich deutete und rief: „Schaut mal! Die hat Blut am Hintern!“
Entsetzt fasste ich an die betreffende Stelle und spürte eine leichte Feuchtigkeit. Die Sporthose als Unterhosen-Ersatz hatte nicht gut funktioniert! Eilig und noch gedemütigter als ohnehin schon floh ich nach Hause und zog mich um.
Als an diesem Tag gegen Abend das Telefon klingelte und meine Mutter mich rief, rechnete ich damit, dass vielleicht Anna fragen wollte, wie es mir ging.
Als ich mich meldete, hörte ich allerdings nur eine rauhe Stimme in den Hörer flüstern: „Dein Blut riecht so gut!“ Und der Hörer wurde aufgeknallt.
Ich rannte in mein Zimmer und vergrub mich schluchzend im Bett. Meine Mutter klopfte an die Tür, trat ein und meinte: „Sylvie, sprich mit mir. Ich möchte jetzt sofort wissen, was mit dir los ist!“
Im Gegensatz zu meinen besser aussehenden Freunden hatte ich schon zwei Trophäen gesammelt. Das sollte mir erst einmal einer nachmachen! Vorerst hielt ich das aber geheim und die Sachen von Sylvie in einer Tüte in meinem Schrank verwahrt. Mein Geheimnis! Und bei Bedarf konnte ich immer daran schnuppern.
Doch die Freude währte nicht so lange. Ich hatte schon so ein komisches Gefühl, als die Tussi dann nach diesem Montag die ganze Woche in der Schule fehlte. Angeblich war sie krank. Vielleicht war ich mit dem Anruf doch zu weit gegangen – ich glaubte jedenfalls nicht, dass sie wirklich krank war.
Was, wenn sie es jetzt jemandem erzählte? Noch hatte ich Glück gehabt und sie so sehr einschüchtern können – und war stolz darauf, dass ich mit meiner Einschätzung richtig lag und sie sich gar nicht erst getraut hatte, jemandem von unserer kleinen Sache zu erzählen. Träumerisch setzte ich sie schon als allererste Affäre im Kopf auf eine Liste – eine erste Affäre, und das schon mit 13 Jahren. Und meinem Aussehen! Mein Vater hatte echt Recht – so musste man vorgehen. Die Frauen erniedrigen und sich einfach nehmen, was einem zustand. Was sie dabei dachten, war mir eigentlich egal. Ich hatte kein Interesse an ihren Gedanken, sie sollten mir einfach nur zu Willen sein. Lieben würde mich garantiert nämlich eh keine können. Von daher dann eben so. Am Besten früh genug gelernt, dachte ich mir.
Aber ich hatte ein schlechtes Gefühl. Sie war nicht in der Schule und da war irgendwas faul. Was, wenn sie es jemandem erzählte? Oder jemand so lange auf sie einwirkte, bis sie es erzählte? Solche zarten Menschen waren ja manchmal leicht zu brechen.
Mittwochnachmittag hielt ich es dann nicht mehr aus. Von einer Telefonzelle aus wählte ich die Nummer der Tussi. Ich hatte mir schon eine Strategie überlegt.
Zuerst läutete es eine Zeit lang und ich dachte schon, es wäre niemand zu Hause. Dann, ich war gerade drauf und dran, aufzulegen, hörte ich ein Rascheln und ein leises „Hallo?“
Glück gehabt – es war Sylvie. „Ich bin’s“, kam ich gleich zur Sache. „Hör mal, wir verstehen uns doch gut, oder?“
Keine Reaktion, es wurde aber auch nicht aufgelegt.
„Du hast doch niemandem von uns erzählt?“
Ein Schluchzen ertönte.
„Ich sag’s mal so: Ich weiß, dass du a Katz‘ hast. Wenn du jemandem von unserer kleinen Affäre erzählst, wer weiß – könnte sein, dass deiner Katz‘ dann zufällig was passiert! Verstanden?!“
Ich wartete keine Antwort ab, sondern knallte den Hörer auf. Es ärgerte mich, dass sich tatsächlich Angstschweiß auf meiner Stirn gebildet hatte.
An solchen Gefühlsregungen würde ich noch arbeiten müssen!
Sylvie
An besagtem Montag hatte sich meine Mutter zu mir aufs Bett gesetzt, meinen Arm gestreichelt und mich, wie gesagt, gebeten, ihr zu sagen, was denn los sei. Sie ließ mir einen Moment und ging schon einmal voraus in die Küche, wohin ich ihr kurz darauf folgte. Mein Vater war noch nicht von der Arbeit zu Hause.
Ich setzte mich an meinen Platz am Küchentisch, wo bereits eine Tasse Kakao und Mama auf mich warteten.
Ich hatte Angst und ich schämte mich. Immer noch war ich nicht bereit, die Perversitäten meines Klassenkameraden mir gegenüber zu offenbaren. Vor allem nicht vor den eigenen Eltern, mit denen es ja ohnehin schon schwer genug war, über alles, was mit Sexualität zu tun hatte, zu sprechen. Und ich hatte Angst vor ihm. Wenn ich jetzt meiner Mutter alles erzählte, würde sie garantiert zu meinem Klassenlehrer gehen. Es würde ein Gespräch mit diesem Lehrer, meinen Eltern und mir geben. Und mit diesem Lehrer und ihm und seinen Eltern. Er würde eine Strafe bekommen. Doch würde er tatsächlich von der Schule fliegen? Was, wenn nicht? Ich musste noch fast vier Jahre mit ihm aushalten. Vier Jahre, in denen er sich noch gewaltigere subtile Hinterhältigkeiten ausdenken konnte.
Also räusperte ich mich und erzählte. Dass es da jemanden gab, einen Schüler aus einer anderen Schule, der mich in der Bahn immer mobbte. Ich konnte einfach nicht die Wahrheit sagen, ich war zu ängstlich und wohl auch zu dumm dazu. Er verfolgte mich ohnehin schon ständig in wirren Albträumen. Ich konnte nicht zulassen, dass die Chance bestand, dass zusätzlich zu seinen Übergriffen auch noch eine Rache hinzukam.
Was war ich nur dumm! Doch damals gingen mir eben diese Gedanken durch den Kopf.
Auf die Nachfrage, wer dieser mobbende Schüler sei, schüttelte ich immer nur den Kopf. Auch, als mein Vater später mit mir darüber zu reden versuchte.
Das Ergebnis war, dass meine Eltern mir erlaubten, diese Woche zu Hause zu bleiben und mich psychisch zu erholen. Ich las viel. Und als dann am Mittwoch, als ich gerade allein zu Hause war, dieser schreckliche Droh-Anruf kam, da war ich fix und fertig – aber in meiner Sache nur noch mehr bestärkt: Ich durfte ja nichts sagen. Ich wollte keinesfalls, dass meiner geliebten Kitty etwas passierte! Schon bei der Vorstellung wurde mir schlecht.
Ab dem Zeitpunkt fuhr ich immer statt mit der Bahn mit einem Bus nach Hause oder wurde von meiner Mutter abgeholt, das hatten meine Eltern so beschlossen. Außerdem, und das war tatsächlich eine gute Sache, wurde ich in einen vierwöchigen Selbstverteidigungskurs für Mädchen an der nahegelegenen Volkshochschule geschickt.
Nachdem ich noch eine dritte Mathe-Arbeit verhauen hatte, musste ich außerdem einige Zeit in Nachhilfe gehen. Das half auch tatsächlich, mich wieder ein wenig hin zu meinem Normalmodus zu verbessern. Und es machte mich noch wütender auf ihn. Die starke Verzweiflung wegen meines Ausgeliefertseins hatte sich an einem gewissen Punkt ganz langsam in starke Wut verwandelt. Das war alles nur wegen ihm gewesen! Ich war doch nicht doof – und musste nun auch noch zur Nachhilfe, nachdem er das Leben meiner geliebten Katze bedroht hatte!
Ich beschloss, den Spieß umzudrehen und mich zum ersten Mal in meinem Leben zu wehren. Ein paar Techniken dazu hatte ich ja jetzt ohnehin gelernt.
Seltsamerweise rührte er mich in den darauffolgenden Wochen nicht mehr an. Hatte er Angst bekommen, ich könnte ihn doch noch verraten? Hatte ich die neue Wut ausgestrahlt und ihn so von mir ferngehalten? Ich wusste es nicht, vermutete es aber im Nachhinein.
Mit Anna wurde es auch wieder etwas besser. Die größte, wichtigste und hilfreichste Verbesserung war allerdings, dass er plötzlich von einem Tag auf den anderen nicht mehr da war. Von mir aus hätte er tot sein können. Es war wie Weihnachten, Geburtstag und alles mögliche andere an einem Tag zusammen.
Ich erfuhr, dass seine Eltern in ein anderes Stadtviertel gezogen waren und er dadurch die Schule wechseln musste, mitten im Schuljahr. Hoffentlich fällt er durch, wird von einem Auto überfahren oder von einem Schläger in seiner neuen Klasse drangsaliert, war das, was ich mir noch für ihn wünschte.
Langsam ging es mir wieder etwas besser. Doch ich hatte mich verändert, war vorsichtiger und Männern gegenüber noch introvertierter geworden.
Und als im nächsten Schuljahr tatsächlich das Wunder geschah und Niko mich ansprach und nach einem Treffen fragte, was vorher immer mein größter Traum gewesen war, konnte ich nicht annehmen. Ich wies ihn zurück. Ich fühlte mich zu schmutzig, zu beschmutzt. Es ging einfach irgendwie nicht. Wütend weinte ich an diesem Tag auf dem ganzen Nachhauseweg von der Schule.
Als ich mit neunzehn das Gymnasium abschloss und ein Studium der Literaturwissenschaften anfing, hatte ich noch immer das gleiche Problem: Ich interessierte mich durchaus für einige Jungs oder Männer, hätte gerne auch einen Freund gehabt. Aber ich fühlte mich dessen nicht wert, zu schmutzig.
Also wählte ich den geraden Weg und ging zuerst zu einem Psychiater, dann zur der Psychotherapeutin, an die er mich überwies. Meinen Eltern erzählte ich nichts davon. Jetzt war ich ja volljährig und sie mussten mit alldem nichts zu tun haben.
Und es half mir tatsächlich. Ich lernte, dass ich meinen Wert hatte, und dass dieser unabhängig davon war, was andere von mir dachten, wie sie mich behandelten oder was mir geschehen war. Ich lernte, dass ich nicht beschmutzt war und dass die schlechten Erlebnisse durch gutes Neues wie Liebe und einen lieben Mann sogar in den Hintergrund treten konnten und dies mit Sicherheit auch würden.
Mit Zwanzig verliebte ich mich erneut und war diesmal auch endlich in der Lage, es zuzulassen. Ich hatte meinen ersten Freund und das Gefühl, diesbezüglich doch nicht vom Glück ausgeschlossen zu sein. All die vergeudeten Jahre vorher – und das nur wegen ihm! Ja, ich hasste ihn. Ich hasste ihn mittlerweile sehr. Wäre er mir in diesen Jahren unter die Augen getreten, ich hätte ihn wahrscheinlich mit einem Faustschlag niedergestreckt. Doch ich sah ihn bis zu diesem einen Tag nie mehr. Ich hoffte, dass er vergammelte. Und, wenn das nicht passierte, dann, dass es spätestens nach dem Tod für ihn eine ausgleichende Gerechtigkeit gab. Daran glaubte ich vehement – allgemein hätte es mich in dieser Welt verrückt werden lassen, nicht an so etwas zu glauben. Das Schlechte, das Böse, musste einfach seine Konsequenzen haben!
Später, als das Zeitalter von Facebook und den Sozialen Medien anfing, gab ich tatsächlich einmal seinen Namen in der Suchleiste der Website ein. Ich hatte es davor immer vermieden, aber irgendwann tat ich es.
Hoffte, ihn entweder gar nicht oder als abgewrackten Säufer zu finden. Leider war es ganz anders. Soweit man erkennen konnte, war er erfolgreicher Abteilungsleiter in einer Firma, die viel mit dem asiatischen Markt zu tun hatte. Außerdem gab es Fotos einer attraktiven, allerdings geistig etwas schlicht wirkenden Frau – und eines kleinen Kindes. Das dumme Stück hatte sich also tatsächlich ein gutes Leben geschaffen. Ärgerlich bereute ich, ihn überhaupt gesucht zu haben, und tat es danach nie wieder.
Einladungen zu Klassentreffen meiner Abschlussklasse oder aus dem Studium nahm ich an, nachdem mir nach einem ersten Schreckmoment klar geworden war, dass ich diese Person dort nicht treffen würde.
Mein Leben war in Ordnung gekommen. Doch es hatte erst viele Jahre des Leides und der Entbehrung gebraucht – und die hatte ich ihm zu verdanken.
November 2020
Wir gingen nebeneinander her durch die Kälte. Er sah noch aus wie damals. Körperlich zwar besser in Form, aber immer noch dieses hackfressige Fettgesicht, das einfach von Natur aus etwas Perverses ausstrahlte, was in diesem Fall perfekt zu seinem miesen Wesen passte. Er war ein Soziopath, das war mir mittlerweile klar, und er war größenwahnsinnig. Wir waren an besagter Station aus der U-Bahn ausgestiegen und augenscheinlich einträchtig über die alte Eisenbahnbrücke geeilt dann in die nächste Bar gegangen. Der Regen war in Schneeregen übergegangen und der Asphalt hatte angefangen, zu vereisen.
Es kostete mich unbändige Überwindung, in einer kleinen, engen Nische ihm gegenüber im schummrigen Licht an einem Tisch Platz zu nehmen und ein Lächeln zustande zu bringen. Meine zitternden Hände ließ ich erst einmal unter dem Tisch. Auf den Gedanken, dass ich ihm irgendetwas nachtragen könnte, kam er offenbar in keinster Weise, was ihn erst Recht als Wahnsinnigen auszeichnete.
Ich blieb nüchtern und ließ ihn für mich einen alkoholfreien Cocktail bestellen, während er gleich mit harten Sachen anfing.
Ich nippte augenscheinlich am Strohhalm meines karibisch aussehenden Getränkes, bekam aber kaum etwas hinunter, während rockige Musik die Kulisse untermalte und er nach einer ersten halbherzigen Frage, wie es mir denn so ginge und was ich heute mittlerweile machen würde, sofort zu einer Lobeshymne über sich selbst überging.
Er war eine dieser Kreaturen, die überhaupt nicht mitbekamen, wie es anderen ging, sondern die nur an sich selbst interessiert waren. Auch, als er irgendwann in seiner Erzählung vom erfolgreichen Studium und dem großartigen Job als Abteilungsleiter, der immer wieder Reisen nach Asien zur Folge hatte, bei seiner Frau und dem Kind angekommen war, und Fotos hervorzog.
„Das is meine Alte“, erklärte er mir mit schon um einiges schwererer Stimme und grinste. „Nix in der Birne, aber heiß. Und das Kind. Gott sei Dank ein Junge, der wird dann meinen Stamm mal fortführen.“
Meinen Stamm? Im Ernst?
Nur mit Mühe konnte ich mich zurückhalten und nicht über den Tisch springen, um ihm die hässlichen, fiesen Schweinsäuglein auszukratzen. Ich zwang mich, ruhig und gleichmäßig durchzuatmen, brachte wieder so etwas wie ein verkrampftes Lächeln zustande und nuckelte an meinem Strohhalm, wieder fast ohne etwas einzusaugen, da ich die Befürchtung hatte, mich dann vor lauter unterdrückter Wut auf den Tisch übergeben zu müssen.
Von außen betrachtet mussten wir aussehen wir Kollegen, die nach der Arbeit etwas trinken waren, oder Bekannte. Vielleicht vermutete ein ungeübter Beobachter sogar ein Date.
Schließlich, als er schon deutlich lallte und anfing, Koordinationsschwierigkeiten zu entwickeln, beschlossen wir, zu gehen. „War nett, sich mit dir unterhalten“, meinte er und schaffte es mit etwas Mühe, unsere Getränke mit einem bescheuerten Augenzwinkern in meine Richtung zu bezahlen und aufzustehen. Unterhaltung? Das war ja wohl ein Monolog gewesen!
Er behielt das Gleichgewicht – zum Glück, denn es hätte mir zutiefst gegraut, ihn unterhaken zu müssen – und wir wankten aus der Bar.
Was hatte dieser Besuch ihm wohl gebracht? Wollte er sich an mir und an seiner Angeberei aufgeilen? Wahrscheinlich. Das war die Kehrseite eines jeden Soziopathen: Sein Größenwahn. Und es konnte sein Verhängnis sein.
Langsam gingen wir zurück von der Bar Richtung U-Bahn-Station, über die alte Eisenbahnbrücke. Nachdem wir etwa ein Drittel der Brücke überquert hatten, blieb ich stehen. Ein paar Schritte später bemerkte er es und drehte sich zu mir um. Lehnte sich mit einer Hand ans Geländer, um sich zu stützen.
Es hatte zwar mittlerweile aufgehört mit dem Regnen und Schneeregnen, aber es war kalt und der Boden glatt. Es fiel ihm nicht mehr ganz so leicht, bei jedem Schritt das Gleichgewicht zu halten.
„Hast du eigentlich je darüber nachgedacht, was ich damals gefühlt habe?“ fing ich unvermittelt an.
„Was meinssu?“
Zornig trat ich nun doch einen Schritt auf ihn zu.
„Was denkst du wohl?“
Er zögerte. „Unsewen kleinen Spaß inda Schule?“ Er grinste dümmlich und mir wurde schwummrig. Vor Zorn fing meine Sicht fast an zu verschwimmen.
„Du hast mir Jahre meines Lebens gestohlen!“ presste ich mühsam beherrscht zwischen meinen Zähnen hervor. Nur nicht durchdrehen!
Er lachte schnaubend. Prustete mir seinen widerlichen Speichel ins Gesicht. „Jahre gestoohl‘n?“ Er hielt sich nach wie vor am Geländer fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Lehnte sich schließlich mit dem unteren Rücken daran. „Ich glaub, du siehst da was falsch. Was kannich dafür, wennst dich so anstellst? Sei froh, dass ich dein Erster war! Besser hättstes nich kriegn könn!“
In diesem Moment sah ich nur noch Rot.
Gleichzeitig ertönte halb unter uns ein Rattern. Ein Güterzug nahte und bewegte sich auf den Gleisabschnitt unter der Brücke zu.
Ich sah nach links und rechts und trat einige Schritte zurück. Schwer atmend hing er am Brückengeländer und stierte mich an. Offensichtlich war ihm nicht mehr wohl. Dennoch brachte er ein dümmliches Grinsen zustande und intonierte kurz mit aufgerissenen Augen „Buh!“
Das war zu viel.
Ich legte meine ganze Kraft in den Anlauf, konzentrierte mich, nicht zu auszurutschen. Meine klobigen Stiefel waren im Gegensatz zu seinen eleganten Business-Schuhen besser geeignet für diese Witterung und diesen Boden.
Mit aller Kraft sprintete ich auf ihn zu und gab ihm einen kräftigen Schubs vor die Brust. Er konnte aufgrund seiner Trunkenheit nicht mehr ausweiche, riss erschrocken die Augen auf, ruderte mit den Armen, versuchte, mich zu fassen, doch ich wich aus. Das verhältnismäßig niedrige Geländer gab ihm ob seiner Größe wenig Halt. Langsam, mit einem Schrei, rutschte er rückwärts über die Brüstung. Mit einem letzten Rauschen und einem unmännlichen Kreischen segelte er nach unten und man hörte ein unappetitliches Platschen. Ich hielt mich schwer atmend am Geländer fest.
Kurz bevor der Güterzug unter mir hindurchrauschte, drehte ich mich weg.
Ich hatte es getan: Mich gerächt. Jetzt musste ich nur noch zu der Bar zurücklaufen, aus der wir eben gekommen waren, und um Hilfe rufen, so tun, als hätte ich unter Schock vergessen, dass ich ja eigentlich ein Handy dabei hatte. Mein betrunkener Begleiter wäre ausgerutscht und über das Geländer gestürzt. Ich war überrascht, dass ich nun so ruhig war. Atmete tief durch. Hörte, wie unter mir der Güterzug die Bremse zog und langsam kreischend zum Stillstand kam.
Ja, ich hatte eine böse Tat begangen – wegen ihm. Und in diesem langen, langen Moment, in dieser eiskalten Nacht, nachdem ich meinen früheren Peiniger umgebracht hatte – fühlte es sich einfach nur unglaublich gut an. Selbst schuld, dass er gedacht hatte, seine Übergriffe wären nicht so schlimm gewesen …