Mit dem folgenden Text habe ich mal wieder am Bubenreuther Literaturwettbewerb teilgenommen – diesmal selbstverständlich für das Jahr 2025.
„Marie“ wurde in die Liste der Gewinner aufgenommen und ist in der zugehörigen Anthologie veröffentlicht.
Der Link zum Buch: https://buchshop.bod.de/11-bubenreuther-literaturwettbewerb-2025-9783695184279
Marie
Marie ist besser als Melanie. Das muss sie sein.
„Warum?“ fragt ihr beste Freundin.
Marie zuckt die Schultern.
„Stress dich doch nicht so rein!“ sagt ihr beste Freundin. Und: „Das klingt irgendwie total neurotisch.“ Und: „Genieß es doch einfach!“
Neurotisch! Marie fühlt sich getroffen.
Zur Sicherheit googelt Marie den Begriff zu Hause noch einmal. Emotional instabil, steht da unter anderem, und Neigung zu Unsicherheit, Angst und negativen Gefühlen. Nichts, was sie lesen wollte! Dämliche Google-KI, denkt Marie. Während das kurze Ärgern schon gleich wieder der Unsicherheit Platz macht.
Dirk ist Marie wichtig und sie ist gern mit ihm zusammen. Aber – und so ist es immer – spätestens ab dem Zeitpunkt, wo sie von ihrer jeweiligen Vorgängerin weiß (einen Vorgänger gab es bisher noch nie), verwandelt sie sich kurzzeitig von einer erwachsenen Frau in ein … einen … – sie kann es nicht einmal genau definieren. Teenager wäre der falsche Begriff, da sie bei ihrem ersten Freund (im Teenageralter) seltsamerweise nicht so rumgesponnen hat. Allerdings gab es damals ja auch noch keine sozialen Medien.
Marie stresst sich gerne in Themen rein, die andere gedanklich höchstens einmal streifen. Gerne. Sie schläft dadurch schlecht, weint, streitet (entgegen ihrer Natur) und – wenigstens diese Zeit ist vorbei – hat sich deswegen sogar einmal die Haare blond gefärbt. Und am selben Abend wieder zurück, weil es ihr a) nicht stand, und sie b) am nächsten Tag wieder arbeiten musste.
Marie öffnet Facebook und Instagram. Ein bisschen was Gutes bringen die sozialen Medien ja; immerhin ist sie so mit einer entfremdeten Cousine wieder in Kontakt gekommen.
Die schlechten Seiten sind, dass Marie, wenn es einen Mann in ihrem Leben gibt, wieder mit dem Reinstressen anfängt. Und da helfen ihr Facebook und Co. unheimlich.
Im Gegensatz zu ihr löscht anscheinend kaum einer der anderen User Vorangegangenes komplett. Was für Marie aber immer selbstverständlich war …
Marie sieht, dass Melanie noch in Dirks Freundesliste ist. Dass sie noch in einigen Posts bei Dirk verlinkt ist (in Maries Augen nicht bloß Nachlässigkeit, sondern ein Denkmal), und dass es sogar noch ein gemeinsames Foto gibt.
Marie blockt Melanie, damit sie den Großteil dieser Dinge nicht sehen muss. Und dennoch weiß sie, dass 250 andere User (Dirks Freunde) dies weiterhin können.
Jetzt lass doch mal gut sein, Marie! Für Marie, die sehr genau ist, spielen diese Dinge aber eine Rolle. Wenn sie nicht mehr da sind, konsultiert sie die sozialen Medien kaum und kann ihre Zeit mit Dirk genießen.
Da Dirk ein verständnisvoller Mensch ist, löscht er Marie zuliebe die Verlinkungen und die Internetfreundschaft mit Melanie; das gemeinsame Foto setzt er auf privat. Marie ist wahnsinnig erleichtert.
Nun kann sie die Zeit mit Dirk genießen. Und in echt weiß sie, dass Melanie auch nur ein Mensch ist, mit Ecken und Kanten. Aber im echten Leben muss sie schließlich auch nicht besser sein als das, was war.