Anbei ein Text, mit dem ich an einem Wettbewerb des Elysion-Verlags teilgenommen habe. Für die Veröffentlichung hier habe ich ihn in einigen Abschnitten abgeändert.

Ein Sommertagstraum 

Sie erkannte ihn auf den ersten Blick. Sebastian sah sogar besser aus als auf den Fotos, die sie gestern Abend in der Dating-App studiert hatte, was ungewöhnlich war.
Während NCIS im Fernsehen lief, hatte sich Lara durch die Profile der Dating-App geswipt, mit der sie mittlerweile schon einige Erfahrung hatte – in der Hoffnung, sich endlich wieder richtig zu verlieben. Sie wollte wieder eine ernsthafte Beziehung, möglichst mit jemandem, den man sich das ganze Leben an seiner Seite vorstellen konnte. In Lebensabschnittspartnern zu denken, entsprach nicht ihrem Naturell. Sie wollte schließlich einen Zeugen fürs Leben – und zwar für ihr ganzes!
Dann hatte sie Sebastian entdeckt und geliked. Er sah gut aus, wirkte sympathisch und hatte sie sogar gleich angeschrieben. Es entstand ein kurzer netter Dialog, und aufgrund der Tatsache, dass Freitag war, beschlossen sie, spontan zu sein und sich gleich am nächsten Tag gegen Mittag zu treffen. Ihr gefiel Sebastians Direktheit, da sie es selbst im Gegensatz zu früher mittlerweile auch lieber direkt hatte. Sie wollte nicht mehr wochenlang mit jemandem aus einem Datingportal schreiben und ihn dann erst treffen. Wenn man den Betreffenden in Echt nicht anziehend fand, war auf diese Weise nämlich viel Zeit verloren gegangen – und das Leben war zu kurz dafür.
Sie näherte sich dem blonden Mann, der neben der Tür eines belebten Cafés auf sie wartete. Als er sich umdrehte, lächelte er und begrüßte Lara mit einer angenehmen Stimme.
Oft war es tatsächlich so, dass die Männer weniger gut aussahen wie auf den Bildern im Internet, was nur verständlich war. Jeder wollte sich von seiner besten Seite zeigen, und auch von weniger attraktiven Menschen gab es ganz anständige Fotos. Lara selbst achtete darauf, dass ihre eigenen eingestellten Bilder möglichst nah an der Realität waren. Außerdem war sie nicht unansehnlich und konnte ohnehin nicht so viel falsch machen bei dem Ganzen.
Die zweite Sache war, dass manche eine ganz andere Stimme hatten, als man sich vorstellte, die teils sogar eher unangenehm klang. Das machte einen Menschen definitiv weniger attraktiv.
Aber hier und heute war Lara nicht wie sonst so oft auf den ersten Blick enttäuscht, sondern positiv überrascht.
Lächelnd trat sie durch die Tür des Cafés, die Sebastian ihr aufhielt. Sie durchquerten den geschlossenen Raum, traten in einen lauschigen, mit blühenden Sommerblumen dekorierten Innenhof und Lara entdeckte einen freien Tisch im hinteren Teil desselben.
Sie setzten sich, Sebastian fragte nach Laras Wünschen, da in dem Café Selbstbedienung herrschte, verschwand und kehrte bald darauf wieder mit einem Tablett mit den beiden bestellten Cappuccinos zurück, außerdem befanden sich noch zwei Stücke Kuchen daneben. „Ich wusste nicht, ob du vielleicht Hunger bekommst – es ist ja schließlich Mittag“, sagte er, was Lara süß fand; außerdem hatte er ganz selbstverständlich alles bezahlt.
Offenbar war auch Sebastian kein Mensch, der sich mit Geplänkel aufhielt. Oder vielleicht – so wie sie – eben nicht mehr. Die Zeiten, in denen man sechzehn war, waren (sie rechnete kurz nach) noch einmal ganze sechzehn Jahre her, und es gab nicht viel zu verlieren mit Ehrlichkeit – im Gegenteil.
Sie ergänzten im Gespräch Details, die sie gestern im kurzen Chat über die App noch nicht erörtert hatten, während sie an  ihren Heißgetränken nippten, die mindestens genau so angenehm warm wie dieses Gespräch waren, welches auch noch süß wie der leckere Kuchen zu sein schien.
Sebastian betonte, er hätte eine lange Beziehung hinter sich, was schon eine Weile her sei, und jetzt glaube er, langsam wieder so weit zu sein, sich ernsthaft umsehen zu können, und sich eine Partnerin zu suchen – auch mit dem Hintergedanken, dass dies möglichst fürs Leben sei.
In alldem konnte Lara ihm nur zustimmen.
Außerdem merkte sie, dass er wahnsinnig mit ihr flirtete – was ihr sehr gefiel. Wie es wohl sein mochte, ihn zu küssen? Unsinnigerweise hatte sie schon jetzt wirklich Lust dazu. Und, als ob er ihre Gedanken lesen könnte, fügte Sebastian zu den Vorstellungen, die er von einer Beziehung hatte, hinzu, dass man ganz viel eben aus einem ersten Kuss herauslesen könne, seiner Meinung nach.
Er berührte sacht Laras Hand, die sie neben ihrer Tasse auf den Tisch gelegt hatte – es bitzelte auf ihrer Haut – und kam näher. Er habe gerade echt Lust, sie zu küssen – ob sie dies auch gerne gleich einmal ausprobieren würde?
Lara dachte: Warum nicht? Und näherte sich über den Tisch hinweg auch Sebastian an, während ihre Hand die seine ergriff. So könnte sie gleich herausfinden, ob sich ein Kuss mit ihm gut oder schlecht anfühlte, was auch für Lara eine bedeutsame Sache war.
Und wenn es sich nicht gut anfühlte – nun: Shit happens!
Sebastians hübsches Gesicht kam näher, Lara schloss die Augen. Ganz sachte berührten sich ihre Lippen, und es bitzelte erneut. Wie ein erstes Ertasten öffnete sie den Mund und nahm seine Oberlippe zuerst langsam, dann vollständig zwischen ihre Lippen, während er seine um ihre Unterlippe spann. Ein ehrliches Kribbeln in der Herz- und der Bauchgegend entstand in Lara. Das war selten! Sie freute sich und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit hingebungsvoll diesem Kuss, der da entstand, weiterging, sich in die Länge zog, zärtlich war.
Als beide sich voneinander lösten und die Augen öffneten, lächelten sie sich an. „Wow! Gut, dass ich jetzt nicht aufstehen muss – meine Knie sind zu weich!“, sprach Sebastian wahrheitsgemäß sehr direkt aus, was auch in Laras Körper vor sich ging.
Sie verbrachten weitere Zeit in dem Café, der Mittag ging in den Nachmittag über. Lara und Sebastian tranken ihre Getränke aus, der Kuchen wurde bis auf die letzten Brösel aufgegessen, und sie unterhielten sich, was überraschend einfach war, Spaß machte, und eine gegenseitige gute Portion Humor und so einige Gemeinsamkeiten offenbarte. Währenddessen hielten sie sich automatisch und ganz selbstverständlich fast die ganze Zeit an den Händen, und küssten sich zwischendurch immer wieder kurz auf diese prickelnde Weise, was aber durch den Tisch zwischen ihnen beiden dennoch leicht erschwert wurde.
Als beide spürten, dass es Zeit für einen Ortswechsel wurde, schlug Lara vor, doch den aktuell in der Nähe stattfindenden Hippie-Markt zu besuchen, was Sebastian freudig annahm. Hierfür mussten sie nur zwei Stationen mit der S-Bahn fahren. Als sie das Café verließen und Lara durch die aufgehaltene Tür getreten war, nahm Sebastian ihre Hand und ließ sie ab diesem Zeitpunkt auch nicht mehr los. Es fühlte sich auch für Lara so selbstverständlich und natürlich an wie mit einem langjährigen Beziehungspartner oder wenn man sich nach einer überzeugenden Phase, bestehend aus vielen Kennenlerndates, sicher war und in eine Beziehung überging. So schnell hatte sie dieses Gefühl tatsächlich bisher bei noch niemandem empfunden – und ließ zu, dass sich ein vorsichtiges Lächeln auf ihre Lippen stahl.
Und im Gegensatz zu anderen früher wollte sie jetzt und hier tatsächlich mit Sebastian gesehen werden. Für andere hatte sie sich leider manchmal geschämt und gehofft, niemand Bekanntem zu begegnen. Auch dieses Gesehen-werden-wollen war ein wahnsinnig gutes Zeichen …
Ging sie zu schnell vor? War sie zu naiv? Lara war es zwar trotz ihrer zweiunddreißig Jahre manchmal. Doch jetzt hatte sie gerade einfach eine gute Zeit, eine erste Hoffnung. War das so falsch? Sicher, sie kannten diesen Mann nicht wirklich, sie hatte ihn gerade erst kennen gelernt. Doch lieber wollte sie zugreifen, als sich noch einmal  etwas durch die Lappen gehen zu lassen, was hätte schön sein können. Immerhin war sie nicht mehr das ahnungslose Mädchen von früher, sondern hatte tatsächlich schon so einige Erfahrungen gesammelt.
Was hatte Sebastian wohl für Marotten? Was waren seine schlechten Seiten? Während beide Hand in Hand vom Zielbahnhof über eine ausgetretene Wiese zwischen anderen sommerlich gekleideten Menschen in Richtung des Marktes schlenderten, beschloss Lara, Sebastian ganz direkt danach zu fragen, in der Hoffnung, eine ehrliche Antwort zu erhalten. Falls er ebenfalls fragte, so würde auch sie ehrlich antworten.
„Hm, schlechte Seiten?“ meinte er, leicht lächelnd, verschmitzt. „Ja, die hat wohl jeder. Ich würde sagen, ich bin mittlerweile manchmal zu direkt, wie du vielleicht auch schon bemerkt hast. Und ich bin unordentlich. Heißt nicht, dass ich nicht putze – ich mache durchaus jede Woche sauber. Aber irgendwie verwandelt sich meine Wohnung schon am Abend des jeweiligen Putztages wieder langsam, aber sicher, in ein kleines Chaos.“
Lara lachte auf, bevor sie erwiderte: „Und als nächstes erklärst du mir, dass dich deine Ex-Freundinnen nur verlassen haben, weil du ihnen zu perfekt warst und sie von deinem Nettogehalt eingeschüchtert wurden. Komm schon, eine echte, dunkle Seite!“
Sebastian zögerte und entschied sich tatsächlich für Ehrlichkeit: „Okay, ich geb’s zu: Ich schaue manchmal Peter Steiners Theaterstadl – die Wiederholungen von damals natürlich. Außerdem habe ich zwei Jahre lang echt hart gekifft, aber das ist schon länger her. Und jetzt bist du dran – was sind deine … abgründigen Seiten?“
Das Geplänkel und die Gespräche spannen sich immer weiter, während sie zwischen den Buden des alternativen Marktes hindurchschlenderten und bunte Saris, zottelige Hippie-Handtaschen mit blumigen Filzaufnähern, Stofflampen oder handgeschöpftes Papier immer wieder zwischen ihren Gesprächen bewunderten – mal halbherzig, mal von Laras Seite interessierter. Außerdem zogen verführerische Essensgerüche durch die Gassen, ausgehend von veganen Spießen, vor Ort zubereiteten Crêpes oder aus dem großen Basarzelt dringend.
Schließlich fanden sie sich in dem großen, runden, mit bunten Stoffbahnen verhangenen Zelt im orientalischen Flair wieder, holten sich ein kleines Reisgericht plus Mango-Lassi und nahmen dies an einem der hohen Zweiertische mit Barhockern, die durch geöffnete Stoffbahnen einen Blick nach draußen erlaubten, zu sich. Während des ganzen Weges vom Café hierher hatte es immer wieder kurze Küsschen, einmal auch einen längeren Kuss gegeben.
Nachdem sie nun aufgegessen hatten, händchenhaltend redeten und die Menschen beobachteten, rückten sie um den Tisch herum immer näher zusammen und – man konnte gar nicht sagen, wer von beiden damit angefangen hatte, wahrscheinlicher war eine gegenseitige magnetische Anziehung – Lara fand ihre Lippen wieder auf denen von Sebastian, der im vom hellen in den etwas späteren Nachmittag übergehenden Licht einfach fantastisch aussah. Immer, wenn er sie anblickte, spürte Lara ein Ziehen im Bauch und im Herzen, und eine ganze Ameisenhorde kribbelte in ihrem Körper, als sie sich wieder berührten.
Ungeniert und ungeachtet des öffentlichen Ortes vergaßen sie alles um sich herum. Lara hatte eine Hand in Sebastians Nacken gelegt, ließ sie über die leicht stoppelige, und doch seidige Haut gleiten, über den Haaransatz, zu seiner Ohrmuschel, die sie sanft streichelte – während Sebastian es ihr nachtat und schließlich mit einer Strähne ihrer langen, welligen schwarzen Haare spielte, während sich ihre Zungen fester, sanfter, drängender, zärtlicher umspielten, ihre Lippen sich wechselseitig ansaugten, übereinander glitten, sich gegenseitig streichelten und perfekt auf- und ineinander passten. Lara war ganz schwindelig vor lauter Gefühlen.
Schließlich löste sie sich schwer atmend und mit geschwollenen Lippen entschlossen von Sebastian und er sah sie irritiert an. „Ich glaube“, sagte sie schließlich, „ich würde diesen langen gebatikten Rock, den ich vorhin gesehen habe, doch gerne kaufen. Und … dann würde ich auch gleich nach Hause gehen und ihn anziehen wollen.“ Sie schlug die Augen nieder und errötete leicht, blickte dann wieder in Sebastians wunderschöne.
Seine braunen Augen zuckten kurz und wurden dann dunkler vor Verstehen. „Sicher?“, fragte er. „Wir müssen nicht zu dir nach Hause gehen, wenn du das nicht willst. Ich weiß, du wohnst näher als ich … aber wir könnten uns ein Hotelzimmer nehmen. Ich würde das natürlich bezahlen. Oder wir gehen – auch, wenn mir das jetzt wirklich schwer fallen würde, jeder für sich nach Hause, und sehen uns morgen?“
„Ich bin mir sicher. Bitte lass uns jetzt nicht so jeder seines Weges gehen“, erwiderte Lara verlegen und atemlos. Was war nur mit ihr los? Ihre Gefühle hatten sich während dieses Tages immer mehr verstärkt.
Sebastian zögerte, wurde auch kurz rot, gab schließlich zu: „Ich … ich weiß, das hört sich jetzt seltsam an, irgendwie naiv. Und ich bin absolut kein naiver Typ. Ich meine – was ich sagen will, Lara, ist, dass ich … kurz davor bin, so für dich zu empfinden, wenn du verstehst.“
„Ja, ich verstehe. Geht mir nämlich genauso.“
Lara stand auf, nahm wieder Sebastians Hand.
„Eine Sekunde bitte.“ Sebastian lachte verlegen, und Lara gab sie ihm natürlich. Als er schließlich aufstand, gingen sie wieder Hand in Hand zur Bahn. Sogar daran, den als Vorwand dienenden Rock zu kaufen, dachte Sebastian noch, und schenkte ihn Lara.
Diesmal mussten sie fünf Stationen fahren, in denen sie schweigend, aber einträchtig und vorfreudig nebeneinander saßen. Sebastian hatte seinen Arm um Lara und sie ihren Kopf an seine Schulter gelegt, und es fühlte sich sehr nah an – so, wie es sich nur unter dem Zusammenspiel reiner, echter Gefühle anfühlen konnte. Was war das bloß für ein Tag!
Lara strich über die feinen blonden Härchen an Sebastians Unterarm, über seine Finger, die mit ihren spielten, und war von Vorfreude erfüllt. Bis hierhin, bis jetzt, war dieser Tag so perfekt gewesen, dass eigentlich gar nichts mehr schiefgehen konnte. Würde sie morgen früh aufwachen und sagen können, jetzt mit Sebastian zusammen zu sein? Den sie Freitagabend kennen gelernt hatte? Es war verrückt. Aber sie hoffte, nein, sie wünschte sich, genau das sagen zu können.
Der Abend dämmerte, als sie zu Fuß das letzte Wegstück von der S-Bahn-Haltestelle zu Laras Wohnung zurücklegten.
Lara drückte die Tür des Wohnblocks auf, sie fuhren mit dem Aufzug in den dritten Stock, betrachteten, Händchen haltend und verhalten lächelnd, ihre Spiegelbilder in der unvorteilhaft ausgeleuchteten, stickigen Kabine betrachtend.
„Herein in die gute Stube!“ Lara sperrte ihre mit einem blumigen Dekokranz versehende Haustür auf und war froh, selbst ein ordentlicher Mensch zu sein sowie alle Fenster auf Kipp stehen zu haben, sodass die Wohnung gut gelüftet war.
Sie schob sich vor Sebastian in den Flur und er zog die Tür zu. Kaum waren sie allein im Halbdunkel und Lara hatte den Wohnungsschlüssel auf einer Kommode abgelegt, erübrigte sich schon jeder Gedanke an die Frage „Willst du etwas trinken?“ oder „Wollen wir ins Wohnzimmer gehen?“. Lara legte ihre Arme um Sebastians Nacken, er zog sie an der Taille zu sich, und jetzt, ob der fehlenden Blicke, konnten sie sich so wirklich und absolut ungestört und ungehindert küssen, wie es trotz der Innigkeit vorhin noch nicht ganz möglich gewesen war.
Sebastian schob Lara den Riemen ihrer Handtasche und anschließend ihr dünnes Jeansjäckchen von den Schultern. Seine Hand kreiste in ihren Locken, packte ihre Haare fest – und doch zärtlich; wanderte über ihren Rücken. Mit verdunkelten Raubtieraugen blickte er Lara an. Diese dunkelbraunen Augen – und im Gegensatz dazu die blonden Haare – das war wie kräftiger Bitterschokoladepudding mit zartsüßer Vanillesoße. Wortlos nahm Lara Sebastians Hand und zog ihn mit in ihr Schlafzimmer. Auf dem Weg dorthin streiften sie sich achtlos die Schuhe von den Füßen …

Die Dämmerung draußen war in eine laue Sommernacht übergegangen, durch das gekippte Fenster hörte man nachbarschaftliches Gelächter, roch gebrutzeltes Fleisch, Grillen zirpten und in der Ferne vernahm man das Jammern der S-Bahn auf den Schienen.
Lara und Sebastian lagen Arm in Arm; gingen beide schließlich in die Küche und holten sich etwas zu trinken, weil sie nach der ganzen Leidenschaft dringend auch diese Art von Durst stillen mussten. Es waren nicht viele Worte nötig, und Lara fühlte sich eins mit diesem ihr im Grunde fremden Menschen – das war das einzige, was sie wusste.
Wie würde es nun weitergehen?

„Frau Pauker?“ ertönte plötzlich eine leicht genervte Stimme, trötete so lange auf Laras Ohren ein, bis sie in ihr Bewusstsein drang. „Können wir für heute wieder mit Ihrer geschätzten Aufmerksamkeit rechnen?“
Lara fühlte, dass ihre Hand auf einem kühlen Block lag, einen Kugelschreiber umfasste und rhythmisch die Mine klicken ließ.
Die Wolke, die ihren Geist umhüllt hatte, löste sich langsam auf, wurde durchsichtiger, verschwand. „Halt!“ wollte sie am Liebsten rufen. „Stopp!“ …
Doch schließlich war alles weg.
Zum Vorschein kam ein geschäftsmäßig eingerichtetes Schulungszimmer, gefüllt mit etwa zwanzig Personen, von denen einige sie jetzt ansahen.
Die schmallippige Kursleiterin mit der grauen Betonfrisur warf Lara noch einen Blick zu, drehte sich auf ihren Pumps mit bequemem Blockabsatz um und marschierte wieder zur Tafel.
Lara wurde rot und senkte den Blick, kritzelte aus Verlegenheit einen Kreis aufs Papier.
Währenddessen referierte die Kursleiterin wieder über betriebliche Sparmaßnahmen.

Laras Blick fiel auf eine blonde Kurzhaarfrisur zwei Reihen vor ihr. Einen rötlich-blassen Nacken. Hatte er sich auch zu ihr umgedreht, vorhin, gerade eben? Vor Verlegenheit hatte Lara nur die seitlichen Blicke und den der Kursleiterin aufgefangen.
Sie sah seine Hand, die ebenfalls mit dem Kugelschreiber spielte, den das Betriebslogo zierte. Am Ende des rechten T-Shirt-Ärmels lugte die Spitze eines kleinen Tattoos hervor, von dem sie wusste, dass es eine Jugendsünde gewesen war.
Sebastian Weiß.

Laras Augen fingen ein Blitzen auf. Das Blitzen eines Rings, der an Sebastians linkem Ringfinger saß. Eines Rings, der eine deutliche Mauer zog. Eine Mauer in der Realität, für alles, was außerhalb ihres Geistes passieren konnte.

Wehmütig zog Lara ihren Sommerrock weiter über die Knie und malte dann wieder Kreise auf ihren Block.

Die Realität war nicht immer so rosig, wie man sich das wünschte.
Für heute aber: War es ein wunderschöner Sommertagstraum gewesen.