Wieder ein Text anlässlich eines Kurzgeschichtenwettbewerbs, und zwar des 27. Deutschen Kurzgeschichtenwettbewerbs mit dem Thema „Schrei endlich“:

A bad day

„Ja, ja, jaaa, jaaaa, jaaaa, jah, jah, jah! Oh jaaaaa!“
Zuerst leiseres, dann immer lauteres Gerumpel, Gestöhne und Geschrei dringt in mein Bewusstsein – und als es schließlich (und mein Nachbar wohl auch) seinen Höhepunkt erreicht hat, bin ich vollends aufgewacht und habe mir das Scheitelbein am Kopfteil meines Bettes gestoßen. Ein leises „Au“ entfährt mir und ich taste nach meinen Wecker und drehe ihn so zu mir, dass ich die Leuchtziffern im Display erkennen kann: 5 Uhr.
Ich versuche, die Situation nicht zu bewerten, mich nicht darüber zu ärgern, eine Stunde vor dem Weckerklingeln aus dem Schlaf gerissen worden zu sein. Es ist nicht das erste Mal, dass mein Nachbar (und seine kurzfristige oder zumindest noch nie gesehene Partnerin) mich so aus dem Schlaf holen.
Ich mag es nicht, abrupt aufzuwachen, weswegen ich auch kein normales Weckerklingeln ertrage, das für mich eher einem Schockmoment gleichkommt. Stattdessen weckt mich fünf Tage die Woche sanftes Meeresrauschen, das sich stetig steigert und nach einiger Zeit von Möwenrufen begleitet wird.
Während von nebenan ein männliches und ein weibliches Murmeln zu vernehmen sind, lege ich meinen Kopf wieder ins Kissen und nutze die unverhoffte wache Zeit für eine kurze Rückschau.

Seit zehn Jahren lebe ich in meiner schönen Zweizimmerwohnung, die ich anfangs mit meiner früheren Freundin Nina bezog. Doch nach drei Jahren wurde Nina plötzlich klar, dass sie meinen besten Freund Thomas liebte – und ich verlor zwei wichtige Menschen in meinem Leben. Ich weiß von Bekannten, dass die beiden inzwischen verheiratet sind und zwei Kinder haben. Was soll man dazu sagen? „Wie das Leben so spielt?“ Nur ist man selbst nicht gerne der Teil des Leben-spielt-Arrangements, der sitzengelassen wurde.
Da ich allgemein nicht zu schlecht aussehe und es als Immobilienmakler in eigenen kleinen Büroräumen mit Thomas als Abteilungsleiter in einer Bankfiliale durchaus aufnehmen kann, muss es wohl an meiner schon damals beginnenden Halbglatze gelegen haben, dass Nina sich in Thomas verliebte, denke ich oberflächlich. Thomas hat volles, dichtes Haar. Wahrscheinlich hatte Nina Angst, dass eines Tages auf den Familienfotos das neugeborene Baby mehr Haare auf dem Kopf haben würde als der Papa.

Im Schlafzimmer nebenan hat mein Nachbar mit Runde zwei begonnen – verschiedene Geräusche deuten darauf hin.

An dem Abend, als Nina mich verließ, habe ich mich in einer Bar betrunken. Alleine. Denn ich hatte erfahren, dass mein bester Freund ebenfalls involviert war. Als die erste Location schloss, streifte ich zu einer zweiten. Ein Taxi brachte mich schließlich in den frühen Morgenstunden zu der Wohnung zurück, in die ich nicht gehen wollte. Doch die Angst hätte ich mir sparen können: Nina war weg. Nachdem ich aufs Bett gefallen war und meinen Rausch ausgeschlafen hatte, sah ich auch klarer, dass sie wirklich weg war: Ihre Sachen im Bad fehlten, die Hälfte (oder eigentlich eher gut Dreiviertel) des Kleiderschranks war leergeräumt, und auch alle sonstigen Gegenstände, die auf den ersten Blick ihr gehört hatten, fehlten. Ich löschte ihre und Thomas‘ Nummer aus dem Telefonbuch meines Smartphones, lag verkatert auf dem Sofa und starrte an die Decke.
Fühlte sich so ein Neuanfang an? Neu – das würde ja bedeuten: Es bliebe nicht so, sondern etwas anderes würde die neue Leere in meinem Leben füllen. Und ich war erstaunt, dass ich nach wie vor nicht geweint, gefleht, geschrien oder gebettelt hatte, sondern nur einen mittleren Rausch mit nach Hause gebracht. Ich würde Nina nicht mehr sprechen, wahrscheinlich nie wieder. Und ich war verblüfft, dass diese Erkenntnis so stillschweigend über mich erging, so ohne großen Paukenschlag. Als ich mir ins Gesicht fasste, merkte ich, dass ich aber doch weinte. Allerdings lautlos. Lange. Und nur ein einziges Mal. Den Rest des Schmerzes schloss ich in mir weg.

Die Leere der Wohnung füllte kurz darauf eine Katze.

In den Wochen fühlte mein Mund sich wie verklebt an – einfach, weil ich so wenig sprach. Nur in der Arbeit musste ich sprechen, aber zu Hause – nun. Ab und zu telefonierte ich mit meinen Eltern oder meiner Schwester, aber das war’s dann auch. Ich war froh, als das Lamentieren über das Ende der Beziehung zu Nina, von wegen, wie gut wir doch zusammengepasst hätten, ein Ende hatte und der Name aus unser aller Gedächtnis gelöscht wurde, zumindest oberflächlich: Aus den Gesprächen.

Ein sanftes Meeresrauschen ertönt und schwillt an. Mein Wecker. Die Geräusche gehen allerdings fast in denen meines Nachbarn und Partnerin unter, die sich eindeutig wieder auf der Zielgeraden zum Höhepunkt befinden.
Zeit, aufzustehen.
Unter der Dusche eine schnelle Rasur – und natürlich schneide ich mich ob der Oberflächlichkeit leicht am Kinn, was mir aber nur ein „Ssssst“ entlockt. Ein Fitzelchen Klopapier wird ganz klassisch nach dem Abtrocknen aufgeklebt, und wieder bleibe ich gelassen.

Irgendwie ist nach der Sache mit Nina Gelassenheit mein zweiter Vorname geworden. Nach Jonas. Vorher war ich leichter reizbar oder nervös, wenn etwas schief lief, aber ich habe gelernt, dass man nur überlebt, wenn man die Dinge nicht dramatisiert. Männern fällt es ohnehin leichter als Frauen, diese Lektion zu lernen, glaube ich.
Wenn ich zum Beispiel nur an Alma denke, mit der ich zwischen den Jahren kurz etwas hatte … ein Feuer im Bett, aber dafür konnte sie auch rumschreien wie noch was – und das aus meiner Sicht bei den nichtigsten Dingen, die nicht nach ihrem Willen verliefen. Dann doch lieber allein, sagte ich mir, und war es kurz darauf auch. Ich mag es einfach nicht, wenn Menschen herumschreien.
Und Alma war ohnehin nicht die geeignete Kandidatin, um einen festen Platz in meinem Leben einzunehmen. Meine Katze mochte sie nicht. Um ehrlich zu sein, hatte es seit Nina noch keine andere gegeben, die wirklich geeignet gewesen wäre.

Fertig angezogen haste ich mit meiner mich im Arbeitsleben begleitenden Aktentasche über die Straße zu meinem Lieblingscoffeeshop. Wie es das Karma, Schicksal oder was auch immer will, hat dieser allerdings wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Nach einem kurzen „Argh“ eile ich weiter zur U-Bahn-Station und beschließe, Kaffee und Bagel nach Ankunft in der Nähe meines Büros zu besorgen.

Als ich mich endlich dort in die lange Schlange in einem Coffeeshop einreihe, wird mir nach einigen Minuten von hinten auf die Schulter getippt.
Ich drehe mich um und muss fast lachen ob des Zufalls – sieben Jahren habe ich sie nicht gesehen. Vorher nach Langem mal wieder an sie, an meine Situation, gedacht. Vor mir steht: Nina.
„Hallo Jonas.“
„Nina. Hallo! Was machst du denn hier?“ Ich bereue die dumme Frage sofort. Immerhin befinden wir uns in einem Coffeeshop. Was macht man da wohl? Gerichtsakten sortieren?
Sie übergeht die Frage ohnehin: „Du siehst gut aus. Arbeitest du immer noch in den Büroräumen gegenüber?“
„Ja.“
Dann kommt plötzlich ein blondes Kind herbeigehüpft, ein etwa fünfjähriges Mädchen, und zupft an Ninas Mantelärmel. „Mama, wie lang dauert das noch?“
„Ich hole mir nur noch einen Kaffee und dir einen Kakao, mein Schatz.“
Mit großen Augen sieht mich das Mädchen an.
„Wer ist der Mann?“
„So redet man nicht über andere Leute in deren Gegenwart, Lucie. Das ist Jonas.“
„Und woher kennst du den?“
„Das besprechen wir nachher!“
Das Kind starrt mich weiter unverwandt an, und da ich aus Versehen zur Seite getreten bin, nimmt Nina unverschämt meinen Platz ein, als der Barista sich mit einem „Bitte?“ über den Tresen beugt.
Nina gibt ihre Bestellung auf, raunt ein „Tut mir leid, ich muss weiter – aber war echt schön, dich mal wieder zu sehen!“ in meine Richtung, und ist auch schon mit dem mir nachschauenden Mädchen an der Hand verschwunden.
Die Tür des Coffeeshops fällt hinter ihr zu und ich – aus der Reihe gedrängt und noch immer kaffeelos – stehe da wie der Ochs vorm Berg. Als ich mich wieder einreihen will, rügt eine dicke ältere Frau „He, Sie! Hinten anstellen!“
Ein Blick auf die Uhr verrät mir allerdings, dass ich dazu keine Zeit mehr habe, und so eile ich nach einem weiteren „Argh“ an diesem Tag hinüber zu meinem Büro und dem ersten Termin.

Meine Sekretärin begrüßt mich mit einem „Guten Morgen, Herr Schmitz. Sehen Sie mal, ist das nicht … irgendwie elegant? Haben wir von einem früheren Kunden bekommen, als Dank! Ich hab‘s eben selbst aufgehängt!“
Hinter ihr an der Wand prangt nicht mehr das schon etwas verblichene Werbeposter, sondern eine gerahmte Replik von Edvard Munchs „Der Schrei“.
„Ja, das könnte ich jetzt auch …“ entfährt es mir.
„Wie bitte?“
„Schon gut, Frau Semmler. Ich bin dann in meinem Büro. Wenn der erste Termin kommt, können Sie ihn gleich in den Besprechungsraum bitten!

Den restlichen Tag verbringe ich in einer seltsamen Stimmung. Ich bin da, rede mit den Kunden, lächle an den richtigen Stellen, überzeuge – und bin doch nicht wirklich da. Ich fahre zu zwei Häusern, um sie potentiellen Käufern vorzuführen.

Durch meinen Kopf geistert die Begegnung mit Nina. Seltsam. Sieben Jahre habe ich es erfolgreich geschafft, sie nicht zu sehen, und Thomas auch nicht. Und dann denke ich heute Morgen kurz über mein Leben nach – und begegne ihr tatsächlich zufällig. Gut hat sie ausgesehen, vielleicht sogar besser als damals. Das Leben mit Thomas und als Mutter scheint ihr also zu bekommen. Aber ihr Verhalten heute, sich einfach so vorzudrängeln, das war ziemlich egoistisch und rücksichtslos. War sie schon damals so? Dann bin ich ehrlich gesagt froh, sie los zu sein. Natürlich hat diese Begegnung dennoch Altes wachgerüttelt, was mir den Tag über eben immer wieder im Kopf umgeht und mich ablenkt.
Doch auch dieser Arbeitstag geht vorbei.
Als Frau Semmler schließlich gegangen ist und es langsam dunkelt, erledige ich noch ein wenig Papierkram in meinem Büro, tätige einen letzten Anruf bei einem Kunden.

„Guten Tag Herr Maier, hier Schmitz vom Immobilienbüro Schmitz. Ich wollte mich noch einmal bezüglich des Objektes in der Hochsitzstraße melden.“ grüße ich, als der sonst eigentlich recht höfliche Herr Maier sich mit einem forschen „Ja“ am Telefon meldet. „Ist es gerade ungelegen bei Ihnen?“ „Nein, schon gut. Kommen Sie zur Sache“, fährt er weiter ungewohnt schroff fort. „Leider ging das Objekt an einen anderen Interessenten, der sofort zugesagt hat.“ „Was? Wie kann das sein? Sie sagten doch, ich wäre der Einzige!“
„Es tut mir leid, aber in den letzten Tagen hat sich noch ein Herr bei mir gemeldet, der großes Interesse bekundet hat.“
„Sie haben mir doch zugesagt, dass ich das Haus zum vereinbarten Preis haben könne, wenn ich will! Meine Frau hat schon die Küchenzeile ausgesucht! Maßanfertigung! Sie hat den Auftrag schon rausgegeben!“, empört Herr Maier sich weiter.
Ich gehe nicht näher darauf ein, wie unvernünftig ich dies ob eines noch nicht schriftlich getätigten Kaufs finde und versuche, professionell zu bleiben.
„Ja, aber Sie selbst wollten schließlich noch ein paar Tage Bedenkzeit. Sie hätten sich doch einfach früher melden und mir mitteilen können, dass Sie es fix machen wollen! Lange Zeit hatte sich niemand für das Objekt interessiert, und es ist tatsächlich höchst zufällig, dass dann in so kurzer Zeit zwei potentielle Käufer auftauchen. Ich werde Sie informieren, falls ich wieder etwas für Sie Passendes habe. Sie könnten vielleicht auch Interesse an meinem Objekt in der Waldfriedstraße haben. Darf ich Ihnen unverbindlich unser Exposé zusenden?“
„Sie können sich Ihr Exposé sonst wo hinstecken! Eine Unverschämtheit ist das! Und die Google-Bewertung: Ja, die kriegen Sie! Nur nicht die, die Sie sich gewünscht haben“, schreit Herr Maier nun völlig unbeherrscht ins Telefon, und ich halte den Hörer ein Stück von mir ab und frage mich verärgert, wie ich mich so in diesem Mann täuschen konnte. Dann ist das Gespräch auch schon abrupt unterbrochen und ein Tuten ertönt.

Ich lege auf und atme tief ein und aus, einnn – und ausssss. Das hilft. Dann beschließe ich, auch diesen Tag zu beschließen und nach Hause zu fahren. Für heute reicht es mir, ich möchte einfach in Ruhe ein Fertiggericht mit einem Bier vor dem Fernseher genießen. Dafür gehe ich morgen ins Fitnessstudio.

In der U-Bahn nach Hause findet die allmonatliche Show der Verrückten statt. So nenne ich es – denn etwa einmal im Monat fährt irgendeine verquere Person im selben Zug wie ich, und tut dies durch seltsames Gebaren kund – heute kreischt eine Frau wohl ihren Partner am Telefon in Grund und Boden. Ich stecke meine Ohrstöpsel in die Ohrmuscheln und schließe die Augen, bis ich angekommen bin.

Zu Hause steige ich die Treppe meines gepflegten Mehrfamilienhauses in den ersten Stock hinauf. Gewohnheitsmäßig habe ich schon den richtigen Schlüssel in der Hand, um meine Wohnungstür aufzusperren, lege meine Finger ans Holz derselben – und zucke zurück. Die Tür ist nicht zu – sondern nur angelehnt! Dabei ziehe ich sie jeden Morgen nicht nur zu – nein, ich sperre sie immer ab! Ich halte kurz inne, bremse mein Verlangen, sie aufzustoßen und hektisch in die Wohnung zu laufen, sammle mich. Heißer Schrecken glüht durch meine Adern, der Adrenalinspiegel ist unversehens in die Höhe geschnellt. Das kann nur bedeuten, dass sich jemand unerlaubt Zutritt zu meiner Wohnung verschafft hat! Sonst hat nämlich niemand einen Schlüssel!
Meine pragmatische Seite überlegt, was als nächstes zu tun ist, obwohl ich wie elektrisiert bin. Ich poltere die Treppe wieder hinunter, trete vor der Haustüre auf den Bürgersteig und wähle zum ersten Mal in meinem Leben etwas kurzatmig die 110.
„Hallo? Hier ist Schmitz! Ich glaube, bei mir wurde eingebrochen!“
Kurz darauf treffen in einem Streifenwagen zwei junge Beamte ein, ein Mann und eine Frau. Ich bin währenddessen auf dem Bürgersteig auf und ab gelaufen. Sie bestätigen mir, wie vernünftig es war, die Wohnung nicht zu betreten, und halten mich im Flur zurück, während sie vorschriftsmäßig die Wohnung durchsuchen. Dann, als die Luft rein ist, darf auch ich eintreten.
Nach Aufforderung der jungen Frau schaue ich, ob auf den ersten Blick etwas fehlt, und kann nur erkennen, dass sich jemand in meinem Wohn- und Schlafzimmer zu schaffen gemacht hat. Schubladen, Bücher, Zeitschriften und Kissen sind wohl im Zuge eines schnellen Suchens nach Wertgegenständen auf dem Boden gelandet. Der Mann fordert unterdessen telefonisch die Spurensicherung an.
Ich kann nicht erkennen, dass etwas fehlt. Der oder die Einbrecher haben zwar hinter einem Wandgemälde meinen Tresor entdeckt, daran herumgewerkelt, wie Kratzspuren beweisen, konnten ihn aber nicht öffnen. Ein Glück! Und wenigstens ist meine Katze tagsüber unterwegs und war nicht in der Wohnung!
Mitfühlend drückt mich die junge Beamtin auf einen Stuhl in der Küche, legt mir eine Decke um und fragt, ob ich einen Krankenwagen bräuchte. Ich schüttle den Kopf. Wie wäre es dann vielleicht mit einer Tasse Tee? Ich nicke, dankbar dafür, dass es noch nette Menschen gibt. Auch an so einem Tag.
Sie macht sich in der Küche zu schaffen und stellt kurz darauf einen randvollen Becher vor mir ab, aus dem das Etikett eines Teebeutels hängt. Ich höre noch ihr „Vorsicht, heiß!“ während ich die Tasse aber schon zerstreut-dumm am Bauch anfasse und hochhebe – und sie mir mit einem lauten „Au“ aus der Hand gleitet und auf den Boden scheppert. Heißer Tee verteilt sich auf Tisch, Fußboden – und auf meinen Knien und Teilen der Oberschenkel. Wie vom Blitz getroffen schnelle ich nach oben – und schreie dann doch noch an diesem Tag: Laut, gellend und von Schmerz durchzuckt.