Herbst(kind) ist jetzt etwa zwei Jahre alt. Das habe ich zum Anlass genommen, um wieder einmal ein paar neue Zeilen zu unserer dritten Jahreszeit zu verfassen.
Außerdem habe ich mit dem Text am diesjährigen Bubenreuther Literaturwettbewerb teilgenommen – und er wurde in die Liste der Gewinner aufgenommen. „Herbst“ ist daher in folgender Anthologie erschienen: https://tredition.de/autoren/christoph-maria-liegener-15237/6-bubenreuther-literaturwettbewerb-paperback-143442/

Herbst

Am Boden – ganz plötzlich – das erste verfärbte Blatt.
Zügellose Selbstverständlich- und Sorglosigkeit des Sommers im Wandel.
Eine stille Melancholie, die ein Jahr in mir geschlummert hat, kommt wieder zum Vorschein.
Doch es geht mir gut – das Sommerliche konnte nicht für immer bleiben.
Bitte geh nicht! Bin ich trotzdem kurz versucht zu rufen. Doch stopp – du kommst ja wieder.
Die Herbstschwester ist auf den allerersten Blick vielleicht nicht ganz so hübsch – doch auf den zweiten wunderschön.

Es gibt jetzt eine neue Klarheit in meinem Kopf.
Nein: Ich bin niemand anderes, doch bin auch ich abhängig von diesem Wandel der Natur.
Keiner kann sich dem vollständig entziehen – es lehrt uns, dass wir uns manchem fügen müssen.
Die Finger auf glatten Klaviertasten – erst kalt, dann lau – spielen eine zarte Weise.
Traurig, alt, neu, von einer dezenten Schönheit – aber dennoch gar nicht leise.
Lass die leichte Tristesse zu, schöpfe auch hier aus den Vollen.
So kann sie zu einer neuen Glückseligkeit reifen.

Holz duftet und knistert im Kamin. Fichte vielleicht?
Blätterregen, Sonne.
Gold, gelb, orange, grün, braun und rot.
Die Farben leuchten, als der Wind durch die Bäume fährt, die rauschen und mit einem „Tak, tak, tak“ ihre Blätter zu Boden schicken.
Hie und da Pilzsammler mit einem Korb voller Waldschätze.
Gummistiefel voll Erde und Schlamm,
graue Wolken am Himmel, nasse Schauer.

Der eben erstandene Pullover aus der neuen Herbstkollektion, kratzig und doch weich auf meiner Haut, dazu die robusten Stiefel.
Das symbolisiert für mich den Herbst:
Das Dazwischen, das „Zwischen weich und kratzig“.
Und doch so viel mehr als das, doch ganz eigenständig und perfekt für sich.

Kastanien, vollkommen und glatt in den Händen, herausgelöst aus ihrem beschützenden Stachelhaus, glänzend wie poliertes Mahagoni-Holz.
Nach ein paar Tagen zu Hause etwas schrumpelig und matt, aber immer noch schön.
Ich stopfe sie in meine Jackentaschen, die danach so voll sind wie die Backen eines Hamsters.
Kinder neben mir sammeln mit, ihre Eltern beobachten mich misstrauisch, aber lassen mich gewähren.
Altersbeschränkung für Kastaniensammler? Nicht mit mir!

Auf dem Nachhauseweg sehe ich zwei Drachen über den Himmel sirren.
Bleibe am Blumenstand stehen, um die neuen Zweige mit Früchten und Beeren zu bestaunen; erstehe ein paar leuchtende Sonnenblumen und eine Aster. Wie schön!
Schnell heim, es fängt plötzlich an, ungemütlicher zu werden!

Und dann, als der Regen einsetzt, sind meine Blumen und Kastanien bereits dekorativ arrangiert, mit dicken Socken an den Füßen und einer Tasse Tee in der Hand schaue ich aus dem Fenster.
Das Schaumbad und die Kerzen warten.
Kreischende Kinder in bunten Jacken laufen schnell nach Hause, ihre Drachen unter den Arm geklemmt.
Endlich ist es wieder Herbst!