Ich fahre nach Hause wie jeden Tag, komme runter zum Klang des Radios. Heute ist es schon ziemlich spät, der Himmel fast nachtschwarz und mit einigen Sternen getüpfelt.

Kaum über die nächste Kuppe, da erfasst der Lichtstrahl meines Autos etwas – eine … Figur? Ich bremse und drücke automatisch den Knopf für die Innenverriegelung.
Eine weiß-graue, menschengroße Gestalt sitzt da, vor einem Baum am Straßenrand; steht dann auf … leicht durchscheinend wie ein Nebel blitzt sie plötzlich einmal auf, wird heller – und ist verschwunden. Mir fallen fast die Augen aus dem Kopf; ich bremse stärker – was war denn das?!

Dann nehme ich das Licht von Autoscheinwerfern im Innenspiegel wahr und gebe mechanisch wieder Gas. Jahrelange Fahrerfahrung bewegt meinen Fuß Richtung Bodenblech, und ich bin auch schon vorbei an besagtem Baum, über die nächste Kuppe – und drei Kilometer weiter bereits zu Hause.

Während ich in der Küche stehe und mir ein Brot schmiere, ist mir immer noch nicht ganz wohl. Ich denke darüber nach, was ich vorhin gesehen habe beziehungsweise gesehen haben könnte, mein Verstand arbeitet auf Hochtouren daran, nach einer logischen Erklärung zu suchen, die mich beruhigt. Vielleicht … war das ein Nebel. Und dann kam ja hinter mir ein Auto heran, vielleicht hat das diesen Nebel kurz angeleuchtet, bevor er sich auflöste. Ja, so muss es gewesen sein! Schon ist mir eine Spur wohler und ich kann in Ruhe Tagesschau und Tatort schauen, dabei essen und muss nur noch hin und wieder kurz den Kopf schütteln ob meines seltsamen Erlebnisses. Wie, um es aus meinen Gedanken zu schütteln.

Doch das gelingt mir nicht, wie ich spätestens am nächsten Morgen feststelle. Noch ist mein Kopf nicht bereit, das ruhen zu lassen. Nach Kaffee und Toast bin ich wieder auf der Straße und rede mir ein, nicht gespannt zu warten, bis ich in entgegengesetzter Richtung an besagter Stelle von gestern Abend vorbeikomme. Ich fahre über die Kuppe, blicke nach links, wo ich gestern nach rechts sah, zu dem Baum, und sehe: Einen Baum, Gras, ein paar kleine Erhebungen und Erde. Das war‘s. Ich bin erleichtert – da haben mir das Licht, der Nebel und meine Augen wohl einen Streich gespielt gestern. Doch ich bin auch irgendwie enttäuscht.

Kaum durch die Tür des Büros, lenken meine Kollegen, das Telefon und die hektische Vertriebsroutine meine Gedanken jedoch sofort in andere Bahnen – ich nenne das „den Kopf kühlen“ und „die Emotionen in die richtige Relation bringen“, denn arbeitstechnischer Stress hat mich von jeher eher geerdet. Es gibt viel zu tun, aber ich bin dennoch fertig, als es noch hell draußen ist. Ich bleibe jedoch sitzen und sortiere ein paar unwichtigere Papiere von einem Stapel auf einen anderen, bis auch der Letzte meiner Kollegen gegangen ist. Schließlich nehme auch ich meine Schlüssel, schalte das Licht aus und verlasse das Gebäude.

Ich fahre nach Hause wie jeden Tag, schaue, was der Abend so bringen mag und komme runter zum Klang des Radios. Heute ist es schon ziemlich spät, der Himmel fast nachtschwarz und mit einigen Sternen getüpfelt. Kaum über die nächste Kuppe … mein Herz klopft plötzlich heftig.  Der Lichtstrahl meines Wagens und mein Blick fallen gleichzeitig auf besagten Baum. Und ich sehe nichts als einen dunklen Stamm. Oh! Ja, damit war aber doch zu rechnen gewesen …

„Imma, vergiss deine Phantastereien und Hirngespinste und erzähl einfach niemandem von dieser Sache“, weise ich mich innerlich zurecht. Mein Blick fällt noch einmal nach rechts und der Fuß ist schon über dem Gaspedal – da sehe ich ein Licht zwischen den dort dichter werdenden Bäumen aufblitzen, dann ist es sofort wieder weg.

Zum Glück fährt niemand hinter mir, denn die Vollbremsung, die ich hinlege, ist oscarreif. Ich lenke mein Auto mit quietschenden Reifen an den Straßenrand, bin noch geistesgegenwärtig genug, das Parklicht anzuschalten. Dann atme ich tief durch, steige aus, sperre ab und haste in Richtung des dunklen Waldes. Zwischen den Bäumen ist es stockdunkel und ich benutze die Taschenlampen-App meines Smartphones, um etwas zu sehen. Wo ist es hin? Da! In einiger Entfernung blitzt wieder ein Lichtschein zwischen den Bäumen auf und ist kurz danach verschwunden. Ich kann einfach nicht anders – ich muss dem folgen! Warum mich das so stark anzieht, kann ich schwerlich sagen. Eigentlich ist es doch beängstigend, trotzdem muss ich wissen, was da los ist! Immer wieder blitzt das Licht zwischen den Bäumen auf und ich haste hinterher, so schnell es der Wald, die Dunkelheit und meine Handy-App erlauben.

Plötzlich werden die Bäume wieder lichter – wir sind anscheinend einen Bogen gelaufen, stelle ich fest, als ich kurz darauf in etwa an der Stelle aus dem Wald trete, an der ich hineingelaufen bin. Ich sehe automatisch zu dem geheimnisvollen Baum hin – und – leicht durchscheinend wie ein Nebel blitzt dort in den Moment wieder eine menschengroße Gestalt auf, wird heller – und bleibt es einen Moment lang. Ein weiß-grauer nebeldurchwaberter Mann blickt mich für einen langen Moment direkt aus schönen, traurigen Augen an. Ich stehe am Rand des Waldes und bin wie erstarrt, halte die Luft an und mein Herz schlägt bis zum Hals. Dann leuchtet der Mann noch einen Tick stärker auf, es hört sich an wie ein elektrisches Bizzeln – und ist verschwunden.

Ich fühle mich so verstört und gleichzeitig ergriffen, dass Tränen in meinen Augen stehen und ich völlig erstarre. Erst langsam kann ich mich wieder bewegen und zu der Stelle am Baum gehen, an der ich diese Erscheinung aufblitzen gesehen habe. Es riecht noch leicht elektrisch geladen, irgendwie verbrannt.

Zittrig bücke ich mich, denn etwas Kleines liegt im feuchten, irgendwie erdig-aufgeworfenen Gras. Ich hebe es auf – es passt in meine Handfläche – und leuchte mit dem Handy auf das Objekt. Es ist ein hellgrauer Stein, wie ein großer Kiesel, durchlaufen von einer einzigen dunkleren Ader – und geformt zu einem perfekten Herz – fast wie geschliffen, aber doch natürlichen Ursprungs. Ich wische mit dem Daumen die Feuchtigkeit von der Steinoberfläche, stakse mechanisch zum Auto und steige ein. Ich starre auf den in meiner Hand liegenden Stein. Eine ganze Weile – bis endlich mein Schock und das Zittern nachlassen. Dann stecke ich ihn in die Jackentasche und schaffe es irgendwann irgendwie, langsam nach Hause zu fahren.

Ich bin noch immer vollkommen verstört und schalte daheim als Erstes den PC ein, um mehrere Stunden googelnd zu verbringen und kreuz und quer durch Geschichten anderer Menschen von übernatürlichen Erscheinungen und Phänomenen zu lesen. Dabei brennt der Stein gefühlt ein Loch in meine Jackentasche – ich erwarte fast, ihn jedem Moment durch sie hindurch hell aufglühen zu sehen. Obwohl ich danach müde bin, schlafe ich schlecht und wälze mich hin und her, während mein Gehirn versucht, das Erlebte irgendwie einzuordnen.

Als ich leicht gerädert am nächsten Morgen zur Arbeit fahre, werde ich umgeleitet; anscheinend ist irgendwo auf der Strecke etwas passiert – jedenfalls kann ich nicht an „meinem“ Baum vorbei. Mit einem mulmigen Gefühl fahre ich die Umleitung zur Arbeit.

Irgendwie komme ich durch den Tag, obwohl ich immer noch in einer sehr seltsamen Stimmung bin. Gegen Abend setzt sich eine Kollegin auf meine Schreibtischkante und fängt einen Smalltalk an, den ich erst nur halb mitbekomme, bis sie meint „Du fährst doch da jeden Tag dran vorbei!“ „Was?“ entgegne ich, jetzt hellhöriger. „Na, was ich gerade meinte. Dieser Mann wurde heute Früh dort gefunden!“ „Welcher Mann?“ Sie erklärt: „Es ist seit ein paar Minuten online in den News. Dieser Mann, der vor ein paar Monaten verschwand. Schau!“

Sie beugt sich über meinen Schreibtisch, tippt etwas auf meiner Tastatur, klickt, und die News-Seite manifestiert sich vor meinen Augen: „Einfach verscharrt! Leiche von vermisstem 35-jährigem 200 km von seinem Wohnort entfernt gefunden.“ Und unter der Schlagzeile folgt: „Traurige Gewissheit: Der 35-jährige Ulrich B. wurde heute Morgen tot aufgefunden. Eine Spaziergängerin rief die Polizei, nachdem ihr Hund unter einem Baum etwas gewittert hatte. Zeugen gesucht – bitte melden Sie sich bei der nächstgelegenen Polizeidienststelle! “ …

Dann folgt das Foto des hübschen Gesichtes, aufgedruckt vor einem größeren Fotos meines Baumes. Mit einem Aufkeuchen schlage ich mir die Hand vor den Mund und rase – meine verdutzt dreinblickende Kollegin zurücklassend – zur Toilette, um mich in einer Kabine einzuschließen und zu setzen. Tränen strömen über meine Wangen und ich zittere wie Espenlaub. Ich hole den Stein aus der Tasche meiner Jacke, die ich bereits an hatte. Streiche mit dem Daumen über die Oberfläche. Dann gleitet er mir plötzlich aus meiner schweißfeuchten, zittrigen Hand, klackert auf die Fliesen – und verschwindet in einem Abfluss im Boden.

Zwei Wochen später – ich bin seitdem immer die Umleitung zu meiner Arbeitsstelle gefahren – getraue ich mich eines Abends, und nach einem kurzen Stopp halte ich schließlich auf meiner alten Strecke in der Nähe des Baumes. Diverse Spuren deuten auf die vor Kurzem stattgefundenen Grabungs- und Polizeiarbeiten hin. Ich sehe sein Foto, schwarz-weiß, in einer Plastikhülle steckend, am Fuß des Stammes liegen. Er lächelt genauso schön, wie ich es tatsächlich gesehen habe. Man weiß inzwischen aus den Medien, dass er, wie zu erwarten, nicht eines natürlichen Todes gestorben ist, aber das ist auch schon alles. Kein gefasster Täter bisher, nichts Näheres. Ich bücke mich, um meine mitgebrachten Blumen zwischen den bereits dort prangenden und den flackernden Grabkerzen niederzulegen. Es passiert: Nichts. Ich habe ein seltsames Gefühl im Bauch, bin traurig und voller Angst. Werde ich ihn je wiedersehen? Irgendwie hoffe ich es; irgendwie hoffe ich: Bloß nicht! Ich weiß nur: Ich kann das niemals irgend jemandem erzählen … Wirklich niemals. Wirklich keinem. Und es hat mein Leben und meinen Glauben in den Grundfesten erschüttert.

Der Geistermann … war er jemals da?